SP-X/Köln. Wenn liebgewonnene Traditionen verschwinden, schwingt immer ein wenig Wehmut mit. Vor 30 Jahren ahnten Volvo-Fans bereits, dass die neu vorgestellten Flaggschiff-Modelle 940 und 960 das Ende des klassischen „Container-Volvo“, wie er in Schweden liebevoll genannt wurde, andeuteten. Zum letzten Mal klare, kantige Formen für den riesigen Kombi und immer noch eckige, aber schon etwas aufgeweichte Konturen für die langgestreckten Limousinen. Vor allem aber: Zum letzten Mal Hinterradantrieb in Kombination mit kräftigen Turbos und neuen Sechszylindern. Klar, dass die Typen 940 und 960 zusätzlich jede Menge Sicherheitsinnovationen im Gepäck hatten und das natürlich noch ohne „Absicherung auf 180 km/h", so wie heutige Volvo. Im Gegenteil: Viel Tempo war werbewirksam und eine Höchstgeschwindigkeit von über 200 km/h wurde 1990 stolz kommuniziert. Obwohl sie keine komplette Neuentwicklung waren, eigentlich sogar nur ein größeres Facelift der damals bereits acht Jahre alten Modelle 740/760, avancierten die frischgemachten Volvo Spitzenmodelle zu globalen Bestsellern und auf dem Heimatmarkt zum Volksauto schlechthin. Die nordischen Königshäuser ließen sich in Volvo 960 Executive oder Royal chauffieren, Familien favorisierten den 940 Kombi, die Limousinen dominierten den Dienstwagen- und Taximarkt und Karossiers lieferten die Volvo 900er als Krankenwagen oder Bestattungsfahrzeug. Kurz, diese Volvo begleiteten eine Generation durch das ganze Leben, nicht nur in Schweden.
Am Ende währte die Produktionszeit der Volvo 900er inklusive der 1996 eingeführten Faceliftversionen S90/V90 zwar nur acht Jahre, aber im Straßenbild blieben die kantigen Typen über Jahrzehnte präsent. Schließlich schienen die soliden Schweden fast für die Ewigkeit gebaut zu sein, wie nicht wenige Volvo-Werkstätten über entsprechende Kilometer-Millionäre zu berichten wussten, die lediglich in vergleichsweise kurzen Abständen Routine-Wartungen verlangten. Trotzdem zählen diese erst gebrauchten und dann irgendwann doch verbrauchten nordischen Marathonläufer heute allmählich zu den vom Aussterben bedrohten Pkw-Typen – und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der die ältesten Volvo 900er endlich den ihrer klassischen Optik entsprechenden amtlichen Oldtimerstatus via H-Kennzeichen attestiert bekommen.
Klassiker waren diese kultigen Schweden allerdings schon als Neuwagen. Denn bereits damals, im Sommer 1990, verkörperten die im Format von BMW 7er oder Audi V8 dimensionierten Oberklasse-Volvo keineswegs skandinavische Jugendfrische. Eigentlich handelte es sich um altgediente Wikinger, deren Entwicklung schon 1975 begonnen hatte und die seit 1982 als Volvo 740/760 vor allem dank eines fast schon verschwenderisch großzügigen Raumangebots und mit kräftiger Turbo-Power verblüffende Verkaufsresultate erzielten. Wozu neben den Volvo-typischen Sicherheitsfeatures auch unverschämt freche Vollgas-Werbung beitrug, die etwa den 740 Turbo mit Lamborghini Countach und Ferrari Testarossa verglich. Tatsächlich genügte den erfolgsverwöhnten 700ern deshalb lediglich etwas Kosmetik, um 1990 als nominell größeres Volvo-Doppel 940 und 960 aufzuspielen, und in einigen Versionen erstmals die Fünf-Meter-Längenmarke zu übertreffen. Ob als extralange sechstürige Hotel-Limousine, glamourös ausstaffierte Staatskutsche der dänischen und schwedischen Royals, inoffizieller nordischer Driftchampion auf Eis und Schnee (dafür prädestinierte den 900er der Hinterradantrieb) oder als mit Abstand größter Kombi (2.130 Liter Kofferraumvolumen ließen andere Lademeister wie Ford Scorpio Turnier oder BMW 5er Touring geradezu winzig wirken): Die 900er Serie erwies sich für den damals finanziell klammen Göteborger Autobauer als vielleicht lebensrettender Bestseller.
Schließlich konnte Volvo in den weltwirtschaftlich turbulenten frühen 1990ern die Entwicklungskosten für die künftigen Frontantriebs-Reihen 850 und S80 kaum alleine stemmen und die von Volvo-Chef Pehr Gyllenhammar angestrebte Fusion mit Renault scheiterte. Da kamen die satten Gewinne aus dem teuer eingepreisten 900 gerade recht. Tatsächlich kostete der mit einem neu konstruierten, 150 kW/204 PS starken Vierventil-Sechszylinder aufwartende Volvo 960 Executive fast ebenso viel ein S-Klasse-Mercedes und auch der Volvo 940 Turbo nahm beim Preis Maß an Premium-Konkurrenten wie BMW 5er oder Audi 100/200. Andererseits blieb der größte Volvo Schwedens Volkswagen und deshalb gab es die Schnäppchen-Version 940 GL Business Edition mit 82 kW/112 PS-Vierzylinder zu billigeren Preisen als entsprechende Ford oder Opel. So wurden in gut achtjähriger Bauzeit rund 670.000 Einheiten der Volvo Serie 900 und der 1996 vorgestellten finalen Faceliftversion S90/V90 ausgeliefert, für den damals kleinen skandinavischen Player im Konzert der globalen Giganten ein stolzes Ergebnis. Mehr noch: Neben der neuen Volvo-Frontantriebsfamilie verlockten die altgedienten, aber gut verdienenden schwedischen Spitzenmodelle den amerikanischen Ford-Konzern kurz vor der Jahrtausendwende zur Übernahme des alleine nicht überlebensfähigen Sicherheitsspezialisten Volvo.
In gleich zwei cleveren Marketingkampagnen vermittelten die Volvo 900er subtil und nachhaltig ihre jüngsten Sicherheitsinnovationen wie Seitenairbags oder integrierter Kindersitz. Wirklich verblüffend für die Volvo-Community war die Werbebotschaft, wer die Volvo-Sicherheitsforschung 40 Jahre zuvor initiiert hatte und für wen der neue Volvo 960 das entsprechende Jubiläums-Denkmal setzte. Ein „Monument for Margit“ sei das Topmodell, eine Würdigung für die schwedische Unfall-Medizinerin Margit Engellau, die die Volvo Sicherheitsforschung in den 1950ern angeblich so forcierte, dass schon damals nach Möglichkeit niemand mehr in einem Volvo zu Tode kommen sollte. Wie Margit Engellau ihre medizinischen Erkenntnisse in die Sicherheitstechnik der Fahrzeuge einfließen ließ? Über ihren Ehemann, den legendären, noch vom Volvo-Gründer Assar Gabrielsson berufenen Volvo-Chef Gunnar Engellau, der wiederum Pehr Gyllenhammar förderte, unter dessen Volvo-Führung die 900er Serie zum automobilen Sicherheitsmaßstab der 1990er avancierte. Letzteres nach Meinung amerikanischer Fachleute und nach Ansicht der Mitglieder des „Volvo Saved My Life Club“. Dieser „Club“ bestand aus einer preisgekrönten Anzeigenserie, in der sich Volvo-Fahrerinnen und -Fahrer persönlich vorstellten, die einen spektakulären Unfall angeblich nur deshalb überlebt hatten, weil sie in einem Volvo saßen.
Schnell, sicher, langlebig (laut Fachpresse „bei 300.000 Kilometern gerade erst eingefahren“) und die „Königsklasse des Komforts“, wie Volvo postulierte: Warum schafften es die 900er und 90er dann nicht auch, BMW, Mercedes oder Audi in den globalen Verkaufscharts zu überholen? Offenbar hatten die Deutschen bei fahrdynamischen Qualitäten und vor allem beim Premiumimage weiterhin genügend Vorsprung. Für den 1998 vorgestellten Volvo S80 bis hin zu den heute aktuellen Volvo S90/V90 Ansporn, es weiter zu versuchen.
Wolfram Nickel/SP-X
Kurzcharakteristik
Chronik:
1975: Entwicklungsstart für eine neue Generation von Volvo-Flaggschiffen, der 700er Serie, unter dem Projektcode P1155. Aus der 700er Serie geht später die 900er Serie hervor
1977: Fünf Jahre vor Serienstart wird nach Kundenbefragungen in mehreren Car Clinics in Nordamerika und in Europa die kantige Designlinie verabschiedet
1979: Beginn der Prototypenerprobung
1981: Auf dem Genfer Automobilsalon debütiert die Studie VCC (Volvo Concept Car), die das Kombi-Konzept des späteren Volvo 760 vorstellt und auf begeisterte Resonanz aus Publikum und Fachwelt trifft
1982: Am 2. Februar erfolgt die Markteinführung des Volvo 760 GLE mit Sechszylindermotor. Produktionsende für den Vorgänger Volvo 264/265
1984: Mit bescheidenerer Motorisierung (nur Vierzylinder) und Ausstattung folgt der Volvo 740
1985: Volvo 740 Kombi und 760 Kombi sowie das Volvo 780 Coupé komplettieren die Baureihen
1990: Im August debütieren die neuen Volvo-Spitzenmodelle Volvo 940 und Volvo 960 als Evolution der Modelle 740 und 760. Während der 760 (und auch das Coupé) sofort eingestellt wurden bleibt der 740 vorläufig im Programm. Die Bezeichnung Volvo 960 steht für die größte Baureihe („9“) im Programm und eine anfänglich ausschließlich verfügbare Sechszylinder-Motorisierung („60“). Auf manchen Exportmärkten wird auch ein Vierzylinder-Turbo angeboten. Beim Sechszylinder handelt es sich um einen gänzlich neuen Reihen-Motor (B6304F) mit zwei obenliegenden Nockenwellen und vier Ventilen pro Zylinder. Das aus Aluminium gefertigte 3,0-Liter-Triebwerk steht am Anfang einer neuen Volvo Motorengeneration, die später um innovative Fünf- und Vierzylinderaggregate (zuerst im Volvo 850) erweitert wird. Gekoppelt ist der Sechszylinder an eine neue, elektronisch gesteuerte Getriebeautomatik. Dagegen besteht das Motorenprogramm des 940 (Ausstattungslinien GL, GLT und Turbo) vor allem aus Vierzylindern („40“). Wie schon seinen Vorgänger, den Volvo 760, gibt es den Volvo 960 zunächst als Limousine und als Kombi. Es folgen weitere Karosserieversionen, die allerdings nicht auf allen Märkten verfügbar sind. So wird der Volvo 960 auch als repräsentative Executive Limousine mit luxuriösen hinteren Einzelsesseln angeboten, als Chauffeur- und Staatslimousine mit langem Radstand und sogar mit Spezialaufbauten, etwa für Kranken- und Rettungswagen. Nicht fehlen dürfen in den Volvo 940 und 960 neue Sicherheitsfeatures. Dazu zählt das Tagfahrlicht ebenso wie ein optionaler integrierter Kindersitz in der hinteren Mittelarmlehne und neue Standards wie automatische Dreipunkt-Sicherheitsgurte für die Rücksitze, die weltweit erste höheneinstellbare Kopfstütze für den mittleren Fondsitz und das neuartige Volvo Seitenaufprallschutzsystem SIPS. Für die serienmäßigen Sicherheitstechniken sowie die Sicherheitsinnovationen im Volvo 960 und im Schwestermodell Volvo 940 gewinnt Volvo zahllose Preise und Auszeichnungen. In den USA wird sogar ein eigener „Volvo Saved My Life Club“ initiert, in dem sich Volvo-Fahrerinnen und -Fahrer vorstellen, die einen Autounfall dank der Volvo-Technik überlebten. Der Volvo 960 Kombi differenziert sich von der Limousine technisch durch eine etwas robustere Hinterachskonstruktion. Während beim Volvo 960 Kombi hinten immerhin eine Multilink-Achse eingesetzt wird, vertraut der preiswertere Volvo 940 weiterhin auf eine Starrachse
1991: Der Volvo 850 eröffnet für Volvo die Ära des Frontantriebs. Zum Modelljahr 1992 erhalten ab Herbst alle 940er und 960er neue Sicherheitskopfstützen, neuen Seitenaufprallschutz und die von Kunden seit langem gewünschten größeren Serviceintervalle
1992: Produktionsauslauf für den Volvo 740, ein Jahr später endet die Fertigung des klassischen Volvo 240, damit verfügen die Modelle 940/960 als letzte Volvo über Hinterradantrieb. Im Herbst zum Modelljahr 1993 neue Rücksitzbank für die 900er Kombis mit Dreipunkt-Automatik-Sicherheitsgurten auf allen drei Plätzen und optionalem integrierten Kindersitz
1994: Nach den Werksferien im August zum Modelljahr 1995 große Modellpflege mit optischen und technischen Änderungen. Auffällig ist die überarbeitete Frontgestaltung, das Fahrwerk ist aufgefrischt und durch eine modifizierte Multilink-Hinterachskonstruktion aus teils leichtgewichtigen und robusten Verbundwerkstoffen aufgewertet. Der 3,0-Liter-Sechszylinder-Benziner bildet die Basis für einen kleineren 2,5-Liter-Sechszylinder, der das Motorenprogramm nach unten ergänzt
1996: Im Herbst präsentiert Volvo die neuen Topmodelle Volvo S90 und V90 als Nachfolger des Volvo 960. Der Volvo 940 bleibt unverändert im Programm. Tatsächlich handelt es sich bei S90/V90 nur um neu benannte 960er mit der frischen Volvo-Nomenklatur, die bereits 1995 von den kompakteren Volvo S40/V40 eingeleitet worden war. Danach bedeutet der Buchstabe „S“ Sedan (= Limousine), „V“ Versatility (= Vielseitigkeit) und „C“ ab dem späteren Volvo C70 so viel wie Coupé bzw. Cabriolet. Ansonsten beschränken sich die Modifikationen bei den Volvo S90/V90 auf neue Farben für Exterieur und Interieur. Ausschließlich Sechszylinder-Benziner sind für die Typen S90/V90 verfügbar, dagegen gibt es den 940 weiterhin als Diesel oder Vierzylinder-Benziner. Als zehnmillionster Volvo seit Produktionsstart im Jahr 1927 läuft in Malaysia ein dunkelgrüner Volvo 960 Royal vom Band
1998: Als letzte Volvo-Modelle mit Hinterradantrieb werden die Baureihen 940 sowie S90 und V90 eingestellt. Am 5. Februar erfolgt in Torslanda die feierliche Übergabe des letzten vom Band gerollten Volvo 940, eines weiß lackierten 940 Classic, an den Volvo-Stammkunden Sigvard Aberg, der damit seinen 24. Volvo-Neuwagen übernimmt. Bei den finalen S90 und V90 bleibt es aber bei der Regel, dass der letzte Volvo einer Generation direkt ins Werksmuseum rollt. Insgesamt wurden 246.704 Volvo 940 Limousinen und 231.677 Volvo 940 Kombis produziert (1990-1998). Vom Volvo 960 liefen 112.710 Limousinen und 41.619 Kombis vom Band. Die Produktionszahlen des Volvo S90 belaufen sich auf 26.269 Limousinen und die des V90 auf 9.067 Kombis
2016: Volvo lanciert als Spitzenmodelle die S90 Limousine neuster Generation und einen entsprechenden V90 Kombi
2020: Die ersten Volvo 940 und 960 erreichen H-Kennzeichen-Status und damit das Oldtimer-Alter
Wichtige Motorisierungen Volvo 940/960/S90/V90:
Volvo 940 mit 2,0-Liter-Vierzylinder-Motor (82 kW/112 PS bzw. 114 kW/155 PS bzw. 140 kW/190 PS)
Volvo 940 mit 2,3-Liter-Vierzylinder-Motor (96 kW/131 PS bzw. 99 kW/135 PS bzw. 114 kW/155 PS bzw.121 kW/165 PS)
Volvo 940 mit 2,4-Liter-Sechszylinder-Diesel (60 kW/82 PS bzw. 80 kW/109 PS bzw. 85 kW/115 PS bzw. 90 kW/122 PS)
Volvo 960 mit 2,0-Liter-Vierzylinder-Motor (140 kW/190 PS)
Volvo 960 mit 2,3-Liter-Vierzylinder-Motor (115 kW/156 PS bzw. 121 kW/165 PS)
Volvo 960 mit 2,5-Liter-Sechszylinder-Motor (121 kW/170 PS)
Volvo 960 mit 3,0-Liter-Sechszylinder-Motor (150 kW/204 PS)
Volvo 960 mit 2,4-Liter-Sechszylinder-Diesel (85 kW/115 PS bzw. 90 kW/122 PS)
Volvo S90/V90 mit 3,0-Liter-Sechszylinder-Motor (132 kW/180 PS bzw. 150 kW/204 PS)