SP-X/Köln. Krisen bringen nicht selten die erfolgreichsten Kinder hervor, wie der vom italienischen Kultdesigner Marcello Gandini in raffinierte Kanten gegossene Citroen BX beweist. Mehr als 2,3 Millionen Einheiten verkaufte Citroen von diesem 1982 vorgestellten Mittelklassemodell, das so dazu beitrug, Europas größten Autokonzern PSA Peugeot Citroen (heute Stellantis) vor dem finanziellen Kollaps zu bewahren. Damals war PSA ausgerechnet durch die Übernahme von Citroen (1976) und von Chrysler Europa (1978) in eine malade Situation geraten. Als ein Retter in der Not bewährte sich nun der neue BX, dies nicht zuletzt dank technischer Gleichteile aus dem Peugeot-Fundus.
Dennoch verzichteten die Fastbacklimousine und der familienfreundliche Kombi Break weder auf markentypische exzentrische Features noch auf stilistische Extravaganz. Letztere zeigte sich in provozierend scharfen Designlinien, eckigen Radläufen, flacher Front und dunklen Glastrapezen in den C-Säulen gut ausgestatteter BX. Eine gewagte Formensprache, die typisch war für die berühmte Carrozzeria Bertone. Hatte doch Bertones Chefdesigner Marcello Gandini schon zahllose Lamborghini und Maserati in messerscharfe Konturen gebracht. Zur Verbindung zwischen Citroen und Bertone kam es, weil die PSA-Manager mit den hauseigenen Entwürfen nicht zufrieden waren. Nur ahnte da niemand, dass Bertone die geometrischen BX-Formen gleich mehrfach verkaufen würde: Es ist ein Stoff, aus dem Legenden gestrickt werden und den Citroen-Fans bis heute diskutieren.
Copy and Paste, mit dieser Vorgehensweise italienischer Designateliers musste PSA-Muttermarke Peugeot schon 1960 beim Modell 404 bittere Erfahrungen sammeln. Damals hatte Peugeot-Hausdesigner Pininfarina seine gefeierten Trapezlinien parallel an Fiat und die British Motor Corporation geliefert. Dennoch wird es bei PSA und Citroen ab 1978 einiges Stirnrunzeln gegeben haben, als diesmal gleich fünf andere Marken mit Concept Cars im Gandini-Style des Citroen BX für Furore sorgten. Kaum hatte Bertone die Citroen-Entwürfe in Paris abgeliefert, zeigte der britische Hersteller Reliant eine fünftürige Limousine namens Scimitar SE 7, die im Profil und Heckbereich dem BX wie ein zweieiiger Zwilling glich.
Kein Wunder, stammte das Design doch von Bertone. Obwohl dieser Reliant auch beim türkischen Hersteller Anadol als FW11 vorgestellt wurde, scheiterte seine Serienfertigung letztlich, ebenso wie die des Mittelmotor-Prototyps Fiat X1/10, im Gandini-Dress. Große Schlagzeilen generierte dagegen das gleichfalls bei Bertone gestylte Coupé Volvo Tundra. Dieser Star des Genfer Salons 1979 visualisierte die Dynamik der scharfen Gandini-Kanten, dennoch gab es zur Enttäuschung von Nuccio Bertone von Volvo ein Veto für die bei der Carrozzeria geplante Serienproduktion, wo der Tundra sonst Seite an Seite mit dem Volvo 780 gebaut worden wäre. Der Tundra wurde Marcello Gandinis finaler Entwurf als Bertone-Chefdesigner, aber seine Designphilosophie lebte weiter. Bei Bertone führte nun Marc Deschamps die Formensprache seines Vorgängers in die Zukunft, Kanten blieben toll und Rundungen tabu.
Zu erleben war dies bei der Sportcoupé-Studie Mazda MX-81 Aria von 1981, die gleichfalls eine verblüffende optische Verwandtschaft zum 1982 lancierten Citroen BX zeigte. Ein Japaner, der vielleicht sogar dem Citroen-Management zusagte, jedenfalls entstanden bei Bertone und beim Karossier Heuliez spannende Citroen-BX-Coupé-Entwürfe. Allerdings schaffte es dieser rassige, potentielle Konkurrent zu Renault Fuego oder VW Scirocco aus Kostengründen am Ende nicht in die Serie. Dieses Kunststück gelang dafür einem anderen Heuliez-Entwurf: Der fünftürige Citroen BX Break wurde ab 1985 bei Heuliez gebaut und von Kombifans als avantgardistische Alternative zu VW Passat Variant oder Renault 18 goutiert.
„Fortschritt in seiner faszinierendsten Form“, unter diesem selbstbewussten Motto feierte Citroen 1982 die Weltpremiere der nur 4,23 Meter langen Fastbacklimousine BX. Der Ort? Natürlich dort, wo schon 1955 die alles überstrahlende, zukunftsweisende „Göttin“ Citroen DS Geschichte geschrieben hatte, nämlich in Paris zu Füßen des Eiffelturms. Während Fachmedien vorsichtige Skepsis äußerten, ob dieser Nachfolger des bereits zwölf Jahre alten Citroen GS wirklich ein technischer Leuchtturm sei, beruhigte Citroen in einem Pressecommuniqué: „Die Deutschen kriegen den konventionell gefederten, bierernst gestylten Autoeintopf allmählich satt und Appetit auf den Citroen BX.“
Den „Autoeintopf“ füllten nach Citroen-Interpretation die BX-Konzerngeschwister Peugeot 305 und Talbot 1510/Solara, der Audi 80, aber auch der Alfa Giuletta und der stromlinienförmige Ford Sierra. Immerhin: Die profitable Gleichteile-Strategie beim BX (z.B. einige Peugeot-Motoren) identifizierten nur Insider. Stattdessen wies Citroen stolz auf rund 40 technische Weltneuheiten im BX hin, darunter leichte Motorhauben und Heckklappen aus Polyester-Glasfaserverbund, Vorderachsen mit hydropneumatischen Federbeinen und Anti-Nick-Vorrichtung und der höchste Anteil von elektroverzinktem, rostgeschütztem Stahlblech im Wettbewerbsumfeld. Hinzu kamen Citroen-typische, futuristische Instrumente je nach Ausstattungslinie, also Walzentacho, extraordinäre Bediensatelliten und ein Drehzahlmesser als Leuchtkette. „Ist das Cockpit nun faszinierend futuristisch oder nur irritierend gewöhnungsbedürftig?“, fragte die Citroen-Werbung dazu provozierend, und plakatierte die Innenstädte mit einer Liebeserklärung für den Fünftürer: „J’aime, j’aime, j’aime“ (ich liebe)!
Eine emotionale Aufforderung, die in 12 Jahren 141.000 Deutsche erhörten – auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Noch 1989, im Jahr des Mauerfalls, lieferte Citroen 160 BX Limousinen für die Administration der DDR, die zugleich den größeren, ebenfalls bei Bertone gezeichneten XM, bestellt hatte. Ganz andere Emotionen setzte der BX 4 TC Evo frei, eine 279 kW/380 PS starke Allrad-Bestie für die brutal gefährliche Gruppe B der Rallye-WM. Ein wenig milder, aber immer noch wild genug gaben sich 200 gebaute BX 4 TC Straßenautos, die Citroen 1985 zu Homologationszwecken verkaufte – und nach dem Verbot der Gruppe B zurückkaufte, um sie zu verschrotten. Die wenigen Überlebenden werden heute zu Mondpreisen im sechsstelligen Bereich angeboten.
Damals wie heute bezahlbar sind dagegen die Diesel-BX, deren bis 66 kW/90 PS starke Selbstzünder zu den effizientesten und temperamentvollsten ihrer Art zählten. Übrigens fuhr mehr als jeder zweite BX-Käufer zuvor ein Konkurrenzprodukt. Ein Eroberungserfolg, zu dem auch das damals sensationell breite Motorenangebot beitrug mit rund 30 Leistungsstufen vom 40-kW/55-PS-Basis-Benziner bis zum 16V-Triebwerk im BX GTI. Auch Spezialitäten wie permanenten Allradantrieb hatte Citroen im BX-Portfolio, und hydropneumatischen Federungskomfort bot in der Mittelklasse ohnehin keine andere Marke. Bei so viel Extravaganz überrascht es nicht, dass dieser Citroen bis heute Bestandteil des automobilen Narrativs der 1980er ist.