SP-X/Köln. Centotrenta, auf klangvolle Namen versteht sich die italienische Sprache derart gut, dass auch triviale Typenzahlen wie die 130 Gedanken an grandiose Traumwagen aufkommen lassen. In diesem Fall sogar zu Recht, denn auf Geheiß ihres ebenso erfolgreichen wie glamourös lebenden Konzernlenkers Gianni Agnelli lancierte die Turiner Massenmarke Fiat im Frühjahr 1969 einen veritablen Luxusliner als Typ 130. Eine Sechszylinder-Limousine im Staatskarossenformat und dazu ab 1971 ein exklusives Pininfarina-Coupé, mit denen der weltgrößte Kleinwagenproduzent sein Programm nach oben abrundete und Präsidenten wie Prominente als Kunden gewann, aber auch den Papst chauffierte. Trotzdem steht der Typ 130 für Fiats letzten Ausflug ins automobile Oberhaus. Nach nur rund 19.500 verkauften viertürigen 130 Berlina und zweitürigen Gran-Turismo-Coupé in immerhin achtjähriger Produktionszeit übernahm die Konzerntochter Lancia alle repräsentativen Aufgaben.
Fiat vom Feinsten: Bei der Konstruktion des 130 scheute Gianni Agnelli keinen Aufwand. Schließlich sollte das Flaggschiff passgenau zum 70. Fiat-Firmenjubiläum den globalen Führungsanspruch des italienischen Giganten verdeutlichen, der fast ein Viertel des Automarktes der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erobert hatte, gerade die noble Traditionsmarke Lancia übernahm und 50 Prozent an Ferrari erwarb. Deshalb ersetzte der Fiat 130 nicht nur die im Vorjahr ausgelaufene Trapezlinien-Limousine Fiat 2300, vielmehr nahm es Agnellis Oberklasse explizit mit Mercedes S-Klasse, Jaguar XJ und den gleichfalls neuen Sechszylindern von BMW und Volvo auf.
Dafür hatte der Fiat-Chef ein hochkarätiges Entwicklungsteam um sich geschart. Zum einen den legendären und leidenschaftlichen Kleinwagen-Konstrukteur Dante Giacosa, der über seinen Schatten sprang und als Projektleiter für den Fiat 130 trotz aller persönlichen Vorbehalte ein außergewöhnliches Auto für die Privilegierten baute. Finessen wie ein serienmäßiges Automatikgetriebe, das optionale Fünfgang-Getriebe (damals sonst fast nur für Sportwagen verfügbar), Sperrdifferential für die Hinterachse, Transistorzündung, Aluräder, Klimaanlage und elektrische Fensterheber machten aus dem Fiat ein technisches Kunstwerk. Zumal der ehemalige Ferrari-Konstrukteur Aurelio Lampredi nicht etwa das bewährte und vielgelobte Fiat-Dino-Triebwerk in den Typ 130 implantierte, sondern eigens einen neuen V6 mit 60 Grad Winkel entwickelte.
Anfangs leistete dieses 2,9-Liter-Aggregat 103 kW/140 PS, die aber mit der beladen rund zwei Tonnen schweren Limousine kein leichtes Spiel hatten, vor allem in Kombination mit der kräftezehrenden Borg-Warner-Automatik. Während die Fachwelt die Fahrwerkabstimmung des Fiat als vorbildlich dynamisch pries, kritisierte sie die betuliche Gangart des Viertürers. Deshalb kam 1971 ein 121 kW/165 PS starker 3,2-Liter-V6 mit Zahnriemenantrieb und zwei obenliegenden Nockenwellen zum Einsatz. Eine kernig klingende, laut Presse graziosa macchina, die den nun fast 200 km/h flotten Fiat auf Augenhöhe mit den Automatikversionen von BMW 2800, Jaguar XJ 6 oder Mercedes 280 SE beschleunigte.
Lieferte Motorenpapst Lampredi mit dem 3,2-Liter-Motor endgültig einen standesgerechten Antrieb für die damals einzige italienische Sechszylinder-Limousine sowie das 130 Coupé, zeichneten drei andere gefeierte Protagonisten für das Design der Turiner Oberklasse verantwortlich. Stardesigner Mario Felice Boano kreierte im Fiat Centro Stilo die unaufdringlich distinguierten Linien der 4,75 Meter langen Limousine mit großzügiger Verglasung zum Sehen und Gesehen werden der Passagiere, aber auch den damals angesagten sportiven Doppelscheinwerfergrill fürs Überholprestige.
Dagegen entstand bei Pininfarina 1971 unter Federführung von Paolo Martin und Leonardo Fioravanti das von Designexperten sofort zur Stilikone gekürte Fiat 130 Coupé in kantiger Trapezform. Die Linien dieses zeitlos-eleganten und durch verlängerte Überhänge geschickt auf 4,85 Meter gestreckten Zweitürers spiegelten sich später im Rolls-Royce Camargue. Auch der Ferrari 365 GT4 2+2 zeigte eine gewisse optische Verwandtschaft zum Fiat 130 Coupé. Unglaublich, aber wahr: Es gab sogar verschiedene Rolls-Royce- und Ferrari-Händler, die den Fiat damals ins Vertriebsprogramm aufnahmen und Seite an Seite mit den Typen aus Crewe und Maranello für millionenschwere Kunden anboten. Was die Verkaufszahlen des Fiat 130 allerdings nicht in die Höhe trieb, diese blieben beständig hinter den Erwartungen zurück.
Offenbar fehlte es der Marke Fiat letztlich doch am Faktor Prestige, eine bittere Erfahrung, die damals auch andere Volumenhersteller wie etwa Opel machten. Denn die zeitgleich zum Fiat 130 lancierten letzten Opel Admiral und Diplomat konnten im dichter besetzten Wettbewerbsumfeld der Premiummarken trotz aggressiver Preispolitik ebenfalls nicht mehr frühere Erfolge fortschreiben. Auch die Fiat 130 Limousine wurde zu Preisen angeboten, die deutlich unter denen der Wettbewerber lagen, dagegen bewegte sich das Fiat Coupé weit oberhalb eines Porsche 911 und auf gleichem Niveau mit teuren BMW 3.0 CS und Mercedes 280 SE Coupé.
Es ging jedoch noch exklusiver, denn für staatliche präsidiale und politische Aufgaben etwa in Italien, Polen und Rumänien sowie als Papamobil wurde der Fiat 130 auf Wunsch mit Panzerung und verlängertem Radstand ausgeliefert. Ganz besonders wichtig wurde das, als die Terrororganisation Rote Brigaden prominente Fiat-130-Passagiere wie den vormaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro überfiel und entführte.
Gianni Agnelli dagegen bewegte sich im großstädtischen Gewusel von Turin am liebsten in einem unauffällig-kompakten Fiat 125 – optische Ähnlichkeiten der Fiat 130 Berlina mit dem viertürigen 125 sind nicht ganz zufällig. Aber an seinen Ferienorten liebte es der Industriemagnat stylisher wie schon seine durch die bunten Blätter gegangene Beachcar-Kollektion bewiesen hatte. Deshalb bestellte Agnelli für sein Wintersportdomizil St. Moritz einen extravaganten Fiat 130 Familiare mit Holzbeplankung und Dach-Skihalter in Form eines Weidenkorbs. Ausgeführt wurde der Umbau des „Villa d’Este“ genannten Kombi durch den Karossier Officine Introzzi, der noch drei weitere Fiat 130 als Lademeister fertigte, die Agnelli anschließend im Familien- und Freundeskreis verteilte.
Die hochkarätigsten Diamanten in der Fiat-130-Kollektion lieferte jedoch einmal mehr Pininfarina. Denn das bereits durch Designpreise ausgezeichnete Coupé debütierte 1974/75 als seriennahe Concept Cars Maremma und Opera. Die viertürige Limousine Opera wirkte nicht vor der Mailänder Scala grandios und ließ den konventionellen 130 schlagartig alt aussehen. Dagegen übertrug der 130 Maremma das Shootingbrake-Konzept des Volvo 1800 ES in die Luxus-Liga. Es nützte nichts: Maremma und Opera mussten sich mit der Rolle der Publikumsstars auf Messen begnügen. Fiat hatte die Lust an der Oberklasse verloren und schickte die 130-Reihe 1977 in den Ruhestand als Lancia seine neuen Gamma-Spitzenmodelle in Fahrt brachte.