SP-X/Köln. Seine moderne, aber keineswegs modische Linie mit angedeuteter Keilform wies 1989 so weit in die Zukunft, dass der Mercedes SL der Baureihe R 129 die Idee des Luxus-Roadsters bis ins 21. Jahrhundert beschleunigte. „Das perfekteste Auto, das ich zu verantworten habe“, soll Mercedes-Designchef Bruno Sacco später einmal gesagt haben. Tatsächlich kürte eine internationale Journalisten-Jury diese fünfte Generation der SL-Serie mit dem renommierten Turiner „Car Design Award“ – und wie echte Oldtimer wirken die eleganten Sportwagen trotz frischer H-Kennzeichen-Berechtigung bis heute nicht.
Natürlich tragen dazu die technischen Finessen des Frischluftstars bei, dessen Aluminium-Hardtop zwar nur in manueller Arbeit abzunehmen ist, dafür dann ein elektrohydrauliches Verdeck freigibt. Vor allem aber setzte der Sternträger völlig neue Standards für Cabrios durch Sicherheitsinnovationen wie den automatisch ausfahrenden Überrollbügel und die sogenannten Integralsitzen mit integrierten Sicherheitsgurten und Gurtstraffern. Nicht fehlen durften zudem Delikatessen wie adaptives Dämpfungssystem mit verstellbaren Stoßdämpfern. Mehr Technik wagen, unter diesem Motto präsentierte Mercedes diesen SL vor 30 Jahren auf dem Genfer Salon, wo er als neuer Mr. Sunshine in der Welt offener Jaguar, Porsche oder Aston Martin gefeiert wurde. Mehr als 50.000 Vorbestellungen für einen Luxus-Sportwagen zum Marktstart, das hatte es noch nicht gegeben. Verantwortlich für diesen Hype war natürlich auch das muskulöse und später beständig ausgebaute Motoren-Portfolio: Neben neuen Reihen-Sechszylindern und kraftvollen V6 wie V8 setzte der SL 600 erstmals auf V12-Power und fast 400 PS aus sechs Litern Hubraum.
Damit begann in der feinen Frischluft-Szene ein fröhliches Aufrüsten, das bis heute nicht an Dramatik verloren hat. Notwendig waren die leistungsstarken Triebwerke übrigens auch, weil es der SL sonst an Leichtfüßigkeit vermissen ließ. Wurde das Typenkürzel SL beim nur 1.200 Kilogramm schweren Flügeltürer von 1954 noch als „Super-Leicht“ interpretiert, touchierte die Baureihe R 129 beladen bereits die 2,3 Tonnen-Marke. Das war sogar deutlich mehr als der direkte Vorgänger R 107 – gerne als Panzer bespöttelt – oder der schwergewichtige Jaguar XJS V12 auf die Waage brachten. Andererseits forderten in den SL-Typen 280 bis 600 die vielen neuen Sicherheitstechniken und die für Cabrios konkurrenzlos vielen Komfortfeatures Tribut. Tatsächlich wurden fortan die luxuriösen Luftikusse fast aller Marken gewichtiger und im Kampf gegen die Trägheit durch Pfunde half zusätzliche motorische Muskelmasse meist besser als Leichtbau.
Wichtig war also beim Roadster R 129 die Wahl des richtigen Motors und da reichte das Programm vom seidenweichen Reihen-Sechszylinder in den Cruisern 280 und 300 SL über den drehfreudigen 300 SL-24 mit Vierventil-Technik und die ab 1998 eingebauten V6 bis zum bärenstarken V8 im 500 SL. Dessen 240 kW/326 PS trieben das Trumm von Sportwagen bei Beschleunigungsduellen so vehement voran, dass sogar Porsche-911-Piloten staunten. Und den Entwicklern des BMW 850i mit frischem Fünfliter-V12 bewiesen die Daimler-Techniker die überlegenen Kraftreserven eines durch 24-Ventile geschärften V8. Bis heute gilt der Fünf-Liter-V8 im 500 SL (ab 1993 SL 500 genannt) als besonders begehrenswertes Kraftwerk für die Baureihe, was vielleicht auch an den für viele Käufer gerade noch kalkulierbaren laufenden Unterhaltskosten liegt. Die Grenzen des Machbaren erreichte das damals sportlichste Mercedes-Modell jedoch erst mit dem 1992 lancierten V12 im Spitzentyp 600 SL. Zum Anschaffungspreis einer noblen Penthouse-Wohnung garantierte der 290 kW/394 PS produzierende Zweisitzer (die optionale Fondbank orderten nur sechs Prozent der SL-Käufer) das Prestige des damals stärksten Cabriolets überhaupt. Kein offener Aston Martin oder Ferrari stellte mehr Power bereit als der Wagen, den die Mercedes-Werbung als „Sommernachtstraum“ titulierte.
Und doch ging kurz vor der Jahrtausendwende noch mehr. Während James Bond im Kinoerfolg „Die Welt ist nicht genug“ auf den Dienstroadster BMW Z8 vertraute, musste beim Mercedes SL die neue Tochter AMG helfen, den Hunger auf einen signifikanten PS-Vorsprung und einen Hauch Protz zu befriedigen. Zählte der SL 600 zum Champagner der Cabrio-Szene, gab der 1998 eingeführte SL 73 AMG den Grand Cru unter den kostbaren Champagner-Gewächsen. Will sagen, der 385 kW/525 PS freisetzende 7,3-Liter-V12 stand nicht in den regulären Mercedes-Preislisten, sondern war ein AMG-Manufakturprodukt in Kleinserie, das so kostspielig war wie gleich drei Mercedes SL mit V6. Dafür konnte sich der SL 73 AMG mit offenen Supercars wie dem Lamborghini Diablo Roadster messen. Bei seinem 4,8-Sekunden-Sprinter ließ AMG sogar über die viele SL-Käufer störende Tempo-250-Abregelung mit sich reden. Eine Lockerung auf 280 km/h war kein Problem und einigen SL-Piloten gelang es, die 300-km/h-Schallmauer zu knacken.
Den Nimbus eines ultimativen Hightech-Roadsters bekräftigten im Laufe der Jahre kontinuierlich ergänzte Spezialitäten wie ein Windschott, das neben der Zugluft auch Windgeräusche reduzierte, das lichte Panorama-Glasdach mit Sonnenrollo, eine sogenannte Kurzhubsteuerung, die beim Öffnen der Türen die Seitenscheiben teilweise versenkte und Sicherheitsfeatures wie Airbags für Fahrer und Beifahrer, Sidebags oder Xenonlicht. Hinzu kam der Erfolgsfaktor Zuverlässigkeit. Während andere stilvolle automobile Statussymbole ihre betuchten Besitzer nicht selten mit einem kapriziösen Eigenleben nervten, faszinierte die Baureihe R 129 durch bedingungslose Verlässlichkeit. Weshalb der offene Benz zum beliebten Accessoire von Hollywoodstars avancierte und in Filmen und TV-Serien gleichermaßen als Fluchtauto glänzte wie als Boulevardcruiser, etwa in „Beverly Hills 90210“ oder „Sex and the City“. So überrascht es nicht, dass ein Großteil dieser in Bremen gebauten SL-Generation in den Export nach Nordamerika ging – und nach Japan.
Mit einer Gesamtauflage von knapp 205.000 Einheiten verfehlte die bis Sommer 2001 gebaute Roadster-Reihe R 129 nur knapp das Ergebnis ihres Vorgängers R 107, der dafür allerdings sechs Jahre länger in Produktion war. Auch eine Bestsellerrolle birgt Probleme, gefährdet sie doch die Selbstinszenierung extrovertierter Kunden. Und so kreierte Mercedes für den R 129 ein damals konkurrenzloses Individualisierungsprogramm. Neben einer Vielzahl an Farben, Formen und Materialien, die in der Optionenliste und im sogenannten Designo-Programm zu ordern war, legte Mercedes fast 20 SL-Sonderserien auf.
Darunter waren mehrere Mille-Miglia-Editionen, von denen nur 10 Exemplare verteilt wurden. Ähnliches galt auch für die 35 Einheiten des SL 72 AMG von 1995, von denen allein 25 Fahrzeuge die Sammlung des Sultans von Bahrein bereicherten. Heute gilt der R 129 als frisch geborener Oldtimer, der alle Anlagen mitbringt, noch lange Zeit viel Vergnügen zu bereiten, vor allem mit V8-Power oder als preiswerter Sechsender.