SP-X/Köln. Für Porsches legendären Chefkonstrukteur Helmuth Bott kam das Beste zum Schluss: Mit dem vor 30 Jahren präsentierten Porsche 911 Carrera (Typ 964) sprintete die unter seiner Leitung erneuerte Sportwagenikone auf einen Olymp des technisch Machbaren unter den volumenstarken Vmax-Stars. Dafür spendierte Bott dem Boxer viele der technischen Finessen, die zuvor schon den überteuren Technologieträger 959 ausgezeichnet hatten. Zwar bewahrte der neue 911 die klassischen Elfer-Konturen, aber gegenüber dem Vorgänger, dem 15 Jahre lang gebauten G-Modell, waren 85 Prozent der Teile verändert worden. Vor allem der variable Allradantrieb, mit dem der Carrera 4 von Beginn an angeboten wurde, galt als revolutionär und machte ihn nach Meinung vieler Fachmedien zum „besten Elfer, den es je gab“. Waren doch die manchmal heiklen Reaktionen des Heckangetriebenen im Grenzbereich jetzt Geschichte. Dies allerdings auch dank eines vollkommen neuen Fahrwerks mit Leichtmetall-Querlenkern und Schraubenfedern statt der betagten Drehstabfederung. Für alle Traditionalisten setzte ein halbes Jahr später der Carrera 2 dennoch auf die typische Kombination aus Heckmotor- und Heckantrieb. Neben den Carrera-Versionen Coupé, Cabriolet und Targa ergänzten auch neue Turbos das 964-Programm, das im 280 kW/381 PS starken und fast 300 km/h schnellen Turbo S von 1991 kulminierte. Da hatte sich Helmuth Bott bereits von Porsche getrennt, um nach mehr als 35 Jahren in Zuffenhausen als unabhängiger Berater zu arbeiten. Seinem letzten Elfer hatte er aber alles mitgegeben, um Porsche aus einer Krise zu fahren.
Tatsächlich litt der Sportwagenhersteller Ende der 1980er Jahre unter dem massiven Dollar-Kursverfall sowie einem Absatzeinbruch in Nordamerika und in Deutschland. Japanische Sportcoupés bedrängten die angejahrten Vierzylinder-Typen 924 und 944, das V8-Coupé 928 blieb hinter den Erwartungen und auch das seit fast fünfzehn Jahren weitgehend unverändert gebaute G-Modell des 911 brauchte eine technische Auffrischung, die über immer neue Sonderserien hinausging.
Erste Anzeichen für eine Zeitenwende gab der unter Helmuth Bott konstruierte, extrem teure Hightech-Überflieger Porsche 959, den die Schwaben 1985 als bis dahin schnellsten Serien-Sportler aller Zeiten lancierten. Trotz des astronomisch hohen Preises von 420.000 Mark war die limitierte Auflage des 331 kW/450 PS starken 959 Turbo mit Allradantrieb vor Serienstart vergriffen – ein Geniestreich, den Bugatti (EB 110) oder Jaguar (XJ 220) nicht wiederholen konnten. Dafür machte der Porsche 911 Carrera 4 (Typ 964) die Kombination aus luftgekühltem Boxermotor und Vierradantrieb drei Jahre später zur neuen sportlichen Erfolgsformel, passgenau zum 25. Geburtstag des Elfers. Im 959 hatten die Porsche-Entwickler trainiert, „bevor wir Allradtechnik und Antiblockiersystem in der Serie einsetzten“, erklärte Helmuth Bott gegenüber Journalisten.
An Erfahrung mit Allradantrieb mangelte es Porsche auch sonst nicht, denn bereits 1934 hatte Ferdinand Porsche ein erstes Heckmotorlayout mit Vierradantrieb vorgestellt. Beim Carrera 4 von 1988 war der Motor-Getriebeblock durch ein Transaxle-Rohr mit dem Vorderachs-Differential verbunden und die Antriebskraft wurde zu 69 Prozent auf die Hinterachse geleitet, um das Elfer-typische Fahrgefühl auf trockener Fahrbahn zu bewahren. Anders bei Glätte, dann veränderte die Elektronik die Kraftverteilung. Die Kunden waren begeistert: Kein Pkw mit optionalem Vierradantrieb erzielte einen höheren Allrad-Bestellanteil, nicht einmal Audi mit dem Quattro-Konzept konnte da kontern. Zugleich akzeptierten die Porsche-Fans einmal mehr die inflationär gestiegenen Preise für das neue „Wunder aus Weissach“, wie die Medien den im Porsche-Entwicklungszentrum auf Sieg getrimmten 911 Carrera 4 nannten.
Ob Ferrari Mondial, Maserati Karif, Lotus Esprit oder Aston Martin V8 – gegen die mittlerweile mindestens 184 kW/250 PS starken und natürlich weiterhin voll alltagstauglichen Porsche 911 Carrera blieben die europäischen Asphaltbrenner Nebendarsteller. Auch die schnellen und inzwischen ebenfalls teuren Samurai wie Toyota Supra Turbo oder Mazda RX-7 Turbo konnten gegen die Stuttgarter Boxer im Krafttraining kaum punkten. Das zeigte der erneuerte Elfer auch durch Platz drei in den deutschen Zulassungscharts der Oberklasse, direkt hinter BMW 7er und Mercedes-Benz S-Klasse. So bewies die Baureihe 964 einmal mehr ihre Sonderstellung unter den Sportlern: Als einziger Racer, der auch als Businessjet taugte. Porsche-Entwicklungschef Helmuth Bott war zufrieden und betrachtete in Interviews seinen letzten Elfer als allerbesten und fit fürs 21. Jahrhundert.
Dafür erhielt der Typ 964 einen auf 3,6 Liter Hubraum vergrößerten luftgekühlten Boxer und serienmäßigem Drei-Wege-Katalysator, der dank Doppelzündung sparsamer als sein Vorgänger war und bereits damals Emissionsvorschriften erfüllte, die erst für das neue Jahrtausend erwartet wurden. Das alles in aerodynamisch geglätteter Karosserie, in die die vormals als Eisenbahnschienen verspotteten Stoßfänger jetzt ebenso geschickt integriert waren wie der versenkte Heckspoiler, der bei 80 km/h automatisch ausfuhr. Kritik gab es natürlich dennoch, so wurden in Medien manchmal die Schweller moniert, die wie nachträglich montiert wirkten. Oder das geschrumpfte vordere Gepäckabteil beim Carrera 4, denn die Allradtechnik forderte Tribut.
Letztlich aber überwog der Enthusiasmus an dem Sportwagen, dessen Kauf sich laut Werbung aus rein rationalen Erwägungen rechtfertigen ließ: „Sie können länger frühstücken. Sie sind früher zum Abendessen zurück. Gibt es ein besseres Familienauto?“
Schneller, schönere Spoiler und noch leichter: Dafür stand der 1991 eingeführte Carrera RS, der gut 25 Prozent teurer war als ein Normal-Elfer, aber mangels Airbags, Servolenkung und Luxusfeatures wie Klimaanlage oder Radio auch 175 Kilogramm weniger wog. Was ihn im Zusammenspiel mit dem auf 191 kW/260 PS erstarkten Boxer zu einer reißenden Bestie machte, wie Testfahrer befanden. So richtig stark und ungestüm war aber eigentlich erst wieder der Turbo, anfänglich mit bewährtem 3,3-Liter Boxer und 235 kW/320 PS (ab 1993 mit neuem 3,6-Liter-Boxer und 360 PS) sowie feststehendem, gigantischem Heckflügel. Echte Machos, Ferrari-Killer und Sammlerherzen wählten jedoch den 280 kW/381 PS freisetzenden Turbo S mit Karbon-Heckflügel und Rennfahrwerk. Dieses fast 300.000 Mark teure und nur 80 Mal verteilte Geschoss verblies jeden Ferrari Testarossa.
Auffallen ging übrigens auch günstiger. Dafür genügte es, den Elfer in modischen Farbtönen zu ordern, die so richtig knallten. Etwa Veilchenblau, Sternrubin oder qietschiges Gelb. Kein etablierter Sportwagenbauer zeigte damals mehr Mut zu schrillen Farben, die spätere Gebrauchtwagenkäufer irritierten. Schön bunt und schön schnell beschleunigte der Typ 964 in fünf Jahren auf über 74.000 Einheiten, dann kam der Typ 993, um alles noch besser zu machen.
Wolfram Nickel/SP-X
Chronik:
1963: Weltpremiere des Porsche 901 auf der Frankfurter IAA. Da die Namensrechte an der Ziffernfolge 901 bei Peugeot liegen, erfolgt der Serienstart des neuen Porsche unter der Modellbezeichnung 911 mit neuem 130-PS-Sechszylinder
1965: Auf der IAA präsentiert Porsche den 911 Targa als „das erste Sicherheitscabriolet der Welt“
1967: Auslieferung des 911 Targa. Als Versuchsfahrzeuge werden drei 911 aus rostfreiem Edelstahl produziert
1969: Hubraumwachstum auf 2,2 Liter. Innovative Saugrohr-Benzineinspritzung für die Typen 911 E (165 PS) und 911 S (180 PS)
1971: Hubraumsteigerung für alle 911-Typen auf 2,4 Liter
1972: Rückzug aller Familienmitglieder (darunter Ferdinand Piech und 911-Designer Alexander Porsche) aus dem operativen Geschäft des Unternehmens. Ernst Fuhrmann wird am 1. März Vorstandssprecher der neu gegründeten Porsche AG. Debüt Carrera RS mit Heckspoiler als schnellstes deutsches Serienauto
1973: Die G-Serie des 911 wird vorgestellt mit optischen Modifikationen und Motoren mit 2,7-Liter-Hubraum. Neue K-Jetronic-Benzineinspritzung
1974: Der Porsche 911 Turbo ist weltweit erster Seriensportwagen mit Abgasturboaufladung und setzt neue Technik- und Tempo-Maßstäbe in der 911-Historie
1975: Einführung feuerverzinkter Bleche
1977: Neuer Leistungsträger wird der 911 Turbo 3.3 mit 300 PS. Im Juni erfolgt die Auslieferung des 250.000sten Porsche seit 1948. Vorstellung des 928 als potentiellen Nachfolger des 911
1979: In den USA geht der 911 mit geregeltem Drei-Wege-Katalysator an den Start
1980: Der Einsatz feuerverzinkten Stahls ermöglicht eine siebenjährige Garantie gegen Durchrostung
1981: Peter W. Schutz wird am 1. Januar Vorstandsvorsitzender und setzt auf den 911 als zukunftsweisende Modellreihe
1982: Vorstellung des Porsche 911 Cabriolets
1983: Jetzt mit 3,2 Liter Hubraum. Der Porsche 959 debütiert als Gruppe-B-Studie. Auslieferungsbeginn für das Cabriolet. Namenszusatz Carrera für alle 911
1985: Geregelter Drei-Wege-Katalysator wird für den 911 in Deutschland eingeführt
1986: Der Porsche 959 gewinnt die Rallye Paris-Dakar
1987: Sonderserie von 2.100 Porsche 911 Speedster
1988: Weltpremiere und Start der Bauserie 964. Gegenüber dem G-Modell war der 964 ein fast vollkommen erneuertes Fahrzeug mit zu 85 Prozent frischen Teilen. Abgesehen von den Stoßfängern blieb die Karosserie jedoch unverändert. Der luftgekühlte Sechszylinder brachte es nun auf 3,6 Liter Hubraum und 284 kW/250 PS Leistung. Markant war der ab 80 km/h automatisch ausfahrende Heckspoiler. Technische Besonderheiten waren dagegen der Allradantrieb im Carrera 4, das serienmäßige ABS und die 1991 eingeführten serienmäßigen Airbags. Auch eine Servolenkung war ab 1988 verfügbar. Beim neu entwickelten Leichtmetall-Fahrwerk kamen statt der bisherigen Drehstabfederung moderne Schraubenfedern zum Einsatz. Zunächst ist nur der 911 Carrera 4 verfügbar. Sein elektronisch gesteuerter permanenter Allradantrieb führt 31 Prozent des Antriebsmoments an die Vorder- und 69 Prozent an die Hinterachse. Je nach Fahrsituation kann die Verteilung aber variabel erfolgen. Zudem befindet sich auf der Mittelkonsole ein Traktionsschalter
1989: Im Januar erfolgt auf den meisten Märkten der Verkaufsstart für den 911 Carrera 4 parallel zum alten 911 der G-Serie. Der 911 Carrera 2 (964) mit klassischem Heckantrieb wird erst ein halbes Jahr später nachgeschoben. Lieferbar sind die Karosserieversionen Coupé, Cabriolet und Targa für 911 Carrera 2 und Carrera 4. Das Automatikgetriebe Tiptronic mit Schaltgassen für wahlweise automatisches oder manuelles Schalten wird verfügbar
1990: Für den neuen Porsche Carrera Cup entsteht eine Rennversion des 911 (964) mit Überrollkäfig, anderer Fahrwerksabstimmung, Gewichtsreduzierung durch Dämmmaterial und Entfall von Beifahrersitzen sowie nun 195 kW/265 PS Leistung. Serienmäßig passives Rückhaltesystem Airbag für Fahrer und Beifahrer. Im August kommuniziert Porsche die neue Farbpalette zum Modelljahr 1991, die Chef-Designer Harm Lagaay (seit 1989 bei Porsche) um modische Töne wie Sternrubin, Signal- und Mintgrün und Maritimblau, aber auch Metaillic Korallenrot und Cobaltblau erweiterte
1991: Zum Modelljahr 1991 rundet der Spitzentyp 911 Turbo mit 235 kW/320 PS auf Basis der bisherigen 3,3-Liter-Maschine die Baureihe 964 nach oben ab. Charakteristisch für den Turbo sind der feststehende große Heckspoiler und die breiten Kotflügel. Der 911 Turbo des Typs 964 ist – abgesehen von einer Cabriolet-Kleinstserie – ausschließlich als Coupé erhältlich. Außerdem gibt es das 911 Carrera Cabriolet zum Modelljahr 1992 im nur optischen Turbolook
1992: Im Herbst für das Modelljahr 1993 neuer 3,6-Liter-Turbo mit 360 PS. Diese Version ist an roten Bremssätteln zu erkennen und wird bis Dezember 1993 in nur 1.436 Einheiten gefertigt
1993: Die bei Porsche Motorsport in Weissach entwickelten und in einer Kleinserie von 90 Einheiten gebauten 911 Carrera RS 3.8 und 911 Carrera RSR 3.8 leisten 221 kW/300 PS und nutzen dafür einen 3,7-Liter-Boxer. Im Unterschied zu anderen RS-Modellen verfügen diese 911 über Türen aus Aluminium. Speziell für Nordamerika, wo der Carrera RS keine Homologation erhielt, gibt es den 911 RS America auf Basis des Carrera 2 in einer Auflage von 701 Einheiten. 30 Jahre Porsche 911 feiert der Sportwagenhersteller mit einem Jubiläumsmodell auf Basis des Porsche 964 in einer Auflage von 911 Einheiten. Das Sondermodell „30 Jahre 911“ kombiniert die Carrera-4-Technik mit der breiten Coupé-Karosserie des Turbo, aber ohne feststehenden Heckspoiler. Viola-Metallic ist dabei die Exclusivfarbe für den deutschen Markt. Im Jahr 1993 wird der 911 Speedster als eigenständiges Modell der 964er Reihe in einer Auflage von 930 Stück gebaut. Basis für den Speedster ist das 964 Carrera 2 Cabriolet. Bei Porsche Exclusive entstehen auf Kundenwunsch einige Speedster im Turbolook. Wendelin Wiedeking wird neuer Vorstandschef. Neue Baureihe 993 mit 3,6-Liter-Hubraum und Leistungswerten ab 272 PS ersetzt die Baureihe 964 im Dezember
1994: Der Porsche 964 Carrera RSR 3.8 basiert auf dem Porsche 964 Carrera RS und wird für den ADAC GT Cup entwickelt. Leistung auf 239 kW/325 PS erhöht, Vmax 265 bis 280 km/h
1995: Radikale Straffung des Porsche-Modellprogramms: Der 911 überlebt seine designierten Nachfolger 924/944/968 und 928
1997: Mit der Baureihe 996 wagt Porsche die Revolution im Typ 911, denn der Boxer ist nun wassergekühlt
2004: Einführung der Baureihe 997
2011: Die Bauserie 991 geht an den Start als siebte Generation des 911
2017: Am 11. Mai 2017 erreicht der Porsche 911 die Marke von einer Million gebauten Fahrzeugen
2018: Der Porsche 911 Carrera der Baureihe 964 wird 30 und damit Mitglied im Club der H-Kennzeichen-Klassiker. Porsche feiert das Jubiläum mit Events, wie z.B. auf der Messe Techno Classica. Im Spätherbst debütiert mit dem Porsche des internen Typs 992 die achte Generation des 911
Wichtige Produktionszahlen Porsche 911 (Baureihe 964):
Insgesamt 74.008 Fahrzeuge, davon 18.219 Porsche 911 Carrera 2 Coupé, 11.013 Porsche 911 Carrera 2 Cabriolet, 3.534 Porsche 911 Carrera 2 Targa, 13.353 Porsche 911 Carrera 4 Coupé, 4.802 Porsche 911 Carrera 4 Cabriolet und 1.329 Porsche 911 Carrera 4 Targa.
Technische Daten Porsche 911 (Baureihe 964):
Sportwagen mit Heckmotor in Boxer-Bauweise; Länge: 4,25-4,28 Meter, Breite: 1,65-1,78 Meter, Höhe: 1,27-1,31 Meter, Radstand: 2,27 Meter;
Motorisierungen für
Porsche 911 Carrera 2 und Porsche 911 Carrera 4 und Porsche 911 Speedster mit 3,6-Liter-Sechszylinder-Benziner (184 kW/250 PS),
Porsche 911 Turbo mit 3,3-Liter-Sechszylinder-Benziner (235 kW/320 PS),
Porsche 911 Turbo S mit 3,3-Liter-Sechszylinder-Benziner (280 kW/381 PS),
Porsche 911 Turbo 3.6 mit 3,6-Liter-Sechszylinder-Benziner (265 kW/360 PS),
Porsche 911 RS America mit 3,6-Liter-Sechszylinder-Benziner (184 kW/250 PS),
Porsche 911 Carrera RS mit 3,6-Liter-Sechszylinder-Benziner (191 kW/260 PS),
Porsche 911 Carrera RS 3.8 mit 3,8-Liter-Sechszylinder-Benziner (221 kW/300 PS).