SP-X/Köln. Nie war Vmax so wichtig wie in den Vollgas-süchtigen 1960er Jahren. Vor allem Ferrari und Lamborghini lieferten sich eine epische Temposchlacht, die mit immer stärkeren V12 und schärferen Keilformen ausgetragen wurde. Mit der furiosen Velocità des nach einem wilden Kampfstier benannten Miura erzielte Sportwagenbauer Ferruccio Lamborghini seinen ersten Triumph über den Tempo-Titan Enzo Ferrari. Den nächsten Stich landete 1968 der extravagante Lamborghini Espada, benannt nach dem todbringenden Degen, den der Matador im Stierkampf einsetzt. Tatsächlich ließ der von einem Vierliter-V12 befeuerte Espada 400 GT seinen Rivalen wenig Raum zum Leben, so sehr dominierte der von Stardesigner Marcello Gandini gezeichnete Gran Turismo die kleine Arena viersitziger Hochleistungsracer.
Kein familientauglicher Zwölfzylinder, der damals schneller war. Kein Konkurrent, der in vergleichbar radikale Formen gegossen worden war. Hervorgegangen aus der futuristischen Flügeltüren-Studie Marzal war der Lamborghini Espada ultraflach (1,18 Meter), extrem breit (1,82 Meter) und mit 4,74 Meter länger als manche Luxuslimousine. Provozierende Proportionen, mit denen der bei Bertone gebaute Bolide zum Bestseller avancierte. Exakt 1.217 Espada lieferte Lamborghini in elf Jahren aus, genügend Geschosse, um die Existenz der Marke aus Sant'Agata Bolognese sogar in den Jahren nach der Ölkrise von 1973 abzusichern – und um das Duell mit Maranello in eine neue Runde zu führen.
Die größte Herausforderung für sein Team sei gewesen, die wilde Aggressivität einer Vollblut-Bestie auf einen Viersitzer zu übertragen, erklärte Ferruccio Lamborghini bei der Vorstellung des Espada 400 GT (interne Bezeichnung Tipo 108) gewiss nicht ohne Seitenblick auf den gleichfalls neuen viersitzigen Monteverdi High Speed 375. Schließlich sollte die Identität der Marke mit dem Stier nicht durch ein harmlos aussehendes, wenn auch rasantes Familiengefährt verwässert werden. Deshalb spendete der superschnelle Miura sein heißblütiges V12-Herzstück mit vier oben liegenden Nockenwellen und das Showcar Marzal diente als Blaupause für die scharfkantigen, angriffslustigen Linien des Espada. Auf die Flügeltüren des Marzal verzichtete der serienreife Espada zwar, aber tatsächlich waren Gull Wings in frühen Entwürfen noch angedacht. Stattdessen setzte der Espada nun auf spektakulär große Glasflächen, deren Design durch die Fensterflächen des ebenfalls bei Bertone konstruierten Konzeptfahrzeugs Jaguar Piranha angeregt wurde.
Miura, Marzal und Piranha: Drei Fahrzeuge, die ihre Vaterschaft gegenüber dem Espada reklamieren und die sämtlich vom genialen, erst 27 Jahre alten Bertone-Mitarbeiter Marcello Gandini entworfen worden waren. „Zeichnen Sie etwas, das Ihrem Namen Ehre macht“, soll Lamborghini gegenüber Gandini gesagt haben. Diese Aufforderung war für Gandini Verpflichtung. Seine extremen Entwürfe etablierten den Traktorenhersteller aus Sant'Agata Bolognese, der erst seit 1963 Sportwagen baute, als ernsthaftesten Konkurrenten zum springenden Pferd aus Maranello und zum Tridente aus Modena. Denn durch Gandini emanzipierte sich Formenlieferant Bertone deutlich gegenüber Pininfarina und dessen Linien für Ferrari und auch gegenüber dem Nachwuchsstar Giorgetto Giugiaro und dessen Formen für die Carrozzeria Ghia bzw. Maserati. Gar nicht zu reden von Iso-Rivolta und De Tomaso. Obwohl die Italiener in den späten 60er-Jahren einen beispiellosen Sportwagen-Boom starteten, konnten sogar autoaffine Bambini einen Lamborghini auf Anhieb von seinen Konkurrenten differenzieren – und die schnellsten vier V12-Sessel der Welt als Espada benennen.
Keine Regel ohne Ausnahme und so gab es auch einen Lambo im grauen Anzug. Parallel zum Espada wurde der 2+2-sitzige Islero lanciert und mit diesem teilte sich der Espada etwa die Kraftübertragung und das Fahrwerk aus Federbeinen, Querlenkern und Stabilisatoren. Ansonsten war der Islero pures Understatement, während der Espada seine Betrachter elektrisierte. Dieser voluminöse Viersitzer mit fast waagerecht auslaufendem Dach und horizontaler Glasklappe für mehr Kopffreiheit sowie zusätzlichem, senkrecht stehendem Heckfenster als visueller Einparkhilfe, ließ niemanden unberührt. Breit wie ein amerikanischer Straßenkreuzer, von vorn kraftvoll wie ein Kampfjet und angetrieben von einer Voll-Aluminium-Maschine mit mächtigen 400 Nm Drehmoment galt der Gran Turismo in der Fachwelt als genialer Wurf.
Zumindest konzeptionell, denn nicht wenige britische und amerikanische Medien beschwerten sich über die mangelhafte Verarbeitungsqualität des Lamborghini. Mal funktionierte die optionale Klimaanlage nicht, dann zeigte ein Testwagen Rostflecken am Chassis oder aber die Lederbezüge im Interieur passten nicht. Dagegen lobten europäische Motorjournalisten die klapperfreie und solide Karosseriekonstruktion des Espada, der bei Bertone in Grugliasco gebaut wurde, ehe in Sant'Agata die Technikinstallation erfolgte.
Unbestritten war jedoch das Talent des Espada als Autobahnraser, zumal dieser Businessjet im Unterschied zu fast allen Konkurrenten dauervollgasfest war. Die Standfestigkeit der V12-Maschine hatte Lamborghini-Testfahrer Bob Wallace unter Beweis gestellt. Bei allen Straßentests erzielte Wallace Fabelwerte, Durchschnitts-Tempi jenseits von 240 km/h waren für ihn kein Problem und Rekordzeiten im Alltagsverkehr auf Autostrada Normalität – wohlgemerkt mit bis zu vier komfortabel untergebrachten Passagieren. In stilvoller Grandezza mit einem Gran Turismo rasen, diese Kultur führte der mit Gitterrohrrahmen, Einzelradaufhängung und standfesten Bremsen, aber auch optionaler hydropneumatischer Federung ausgestattete Espada zu einem neuen Höhepunkt. Das musste den Käufern rund 70.000 Mark wert sein, gab es doch dafür bereits den noch schnelleren, aber nicht viersitzigen Ferrari 365 GT 2+2, drei Porsche 911 plus Mercedes 200 oder einen Maserati Quattroporte mit 10.000 Mark Benzingeld. Durstig waren die italienischen GT durchweg, aber der Espada noch ein wenig mehr: Der V12 gönnte sich gerne 23 bis 24 Liter auf flotten Autobahnfahrten.
Für Buchhalter-Naturen war dieser Bolide im Zeichen des Stiers nicht gemacht. Selbstdarsteller wie Show- und Filmstars bevorzugten den Miura und verschmähten sogar den 1970 gezeigten Espada VIP mit riesigem Fernsehmonitor und Loungekomfort, aber bei Fans mit einer Vorliebe für extreme Fahrleistungen bei gleichzeitiger Alltagstauglichkeit stand der Espada über ein Jahrzehnt hoch im Kurs. Drei moderate Facelifts genügten dem meistverkauften Lamborghini, um begehrenswert zu bleiben. Dank dieses scharfen Degens im Portfolio überstand die Sportwagenmanufaktur einen Eigentümerwechsel, den Rückzug ihres Gründers Ferruccio Lamborghini auf ein Weingut und die wirtschaftlichen Turbulenzen in den Jahren der ersten Energiekrisen. Auf einen Nachfolger wartet der 1978 eingestellte Espada übrigens bis heute, seinen Mythos kultivierten aber Concept Cars wie der viertürige Faena von Frua und der viersitzige Estoque.