SP-X/Köln. Endlich ging es rasant aufwärts. Vor 60 Jahren war die Nachkriegstristesse Vergangenheit, das Wirtschaftswunder gab den Takt vor und erste bezahlbare Volksautos vermittelten den Europäern ein bis dahin ungekanntes Freiheitsgefühl. Den Forschern und Technikern schien plötzlich alles möglich, versinnbildlicht durch futuristische Dreamcars mit Atomantrieb und das neue architektonische Wahrzeichen von Brüssel: Unter dem Atomium präsentierte die Weltausstellung 1958 die wundersamen Entwicklungen des Atomzeitalters, für Kinder gab es sogar Mini-Kernkraftwerke zum Selberbauen. Ungeachtet erster Proteste wurde die Kernspaltung gefeiert als unerschöpflicher Energieträger, wie in jenem Jahr das atomar angetriebene U-Boot Nautilus mit einer Nordpol-Unterquerung demonstrierte. Dazu passte auch der phantastisch anmutende Ford Nucleon, der mit Kernreaktor und Kernbrennstoff eine Reichweite von 8.000 Kilometern versprach oder die Cityflitzer Atom und Atomata – vorgestellt auf dem Automobilsalon unter dem Atomium. Aber Brüssel vereinte noch mehr automobile Technologien der Moderne: Turbinen, Kreiskolbenantriebe, Kunststoffkarosserien, Downsizing-Motoren und Designtrends, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Fast schien es, als würde das Auto neu erfunden. Weshalb die amerikanische Presse für die westeuropäische Ingenieurskunst des Atomzeitalters einen neuen Begriff prägte: „High Technology“.
Unter der Kurzform „Hightech“ wurde fortan alles zusammengefasst, was die Forschung an kühnen technischen Pionierleistungen präsentierte. Und das war speziell im Automobilbereich um 1960 mehr als je zuvor – auch wenn manch aufblitzender Geniestreich sternschnuppengleich verglühte. So strahlte die amerikanische Atom-Euphorie zwar bis nach Europa, wo etwa Simca den Fulgur für Brennstäbe vorsah und der norwegische VW-Importeur an einen Käfer mit Bordreaktor dachte. Aber die Risiken der Kernenergie beschränkten deren Nutzung dann doch auf Atomkraftwerke, die bis heute Strom für batteriebetriebene Fahrzeuge liefern.
Freie Fahrt für freie Bürger, dieses Credo verkörperten Ende der 1950er Jahre die in vielen europäischen Ländern gebauten Autobahnen. Am Himmel überflügelten erstmals Jetliner alle Passagierschiffe im Transatlantikverkehr, warum nicht die Turbinentriebwerke auf die Straße bringen? Rover versuchte dies mit den Modellen Jet 1 bis Jet 4, blieb allerdings im Experimentalstadium stecken. Anderen, wie dem 309 km/h schnellen Renault Etoile Filante („Sternschnuppe“) mit Gasturbine, gelang es wenigstens Temporekorde zu setzen. Nur Chrysler baute ein Turbinen-Coupé, das tatsächlich von 203 Testkunden erprobt wurde. Dann aber endete auch das Chrysler-Hightech-Programm, denn der Energieverbrauch der Turbine blieb zu hoch.
Wirklich erfolgreich transferierte dagegen 1958 der Flugzeugbauer Subaru aeronautische Konstruktionsprinzipien in den Automobilbau, als der winzige Subaru 360 dank cleverer Leichtbautechniken als erstes japanisches Kei-Car in Massenproduktion ging. Auch das Thema Sicherheit kam nun aus der Luftfahrt auf die Straße. So musste der Subaru 360 als erstes asiatisches Automobil Crashtests absolvieren. Noch bahnbrechender war die Erfindung des Flugzeugingenieurs Nils Bohlin. Volvo-Chef Gunnar Engellau hatte Bohlin bei Saab abgeworben, damit Bohlin den bei Saab und Volvo bereits verfügbaren Zweipunkt-Sicherheitsgurt optimieren konnte. Bohlin ergänzte den Gurt um einen dritten Befestigungspunkt, was den Riemen bis heute zum wichtigsten Lebensretter im Straßenverkehr macht. Mehr als eine Million Menschen verdanken diesem seit 1959 in Volvo-Modellen serienmäßigen und seit den 1970er Jahren global vorgeschriebenem Sicherheitsfeature ihr Überleben.
Autos schneller, schöner und sparsamer machen, das ist die Mission der Kunststoffe, ohne die im Karosseriebau kaum noch etwas geht. Sind heute Karbon- und Kompositmaterialien gefragt, waren es vor 60 Jahren chemische Produkte in Form von Fiberglas für Sportwagen und Phenoplast für den Trabant, die die Tür in ein neues Zeitalter öffneten. Der DDR-Volkswagen Trabant P50 beziehungsweise 500 erhielt eine Skelettkarosserie aus Stahlblech, deren Beplankung aus baumwollverstärktem Phenoplast bestand. Hightech bedeutete nach damaligem Verständnis eben vor allem technische Kreativität und durch Phenolplast konnte der Trabant-Hersteller teuren Stahl sparen.
Manchmal wird der menschliche Erfindungsgeist durch Fehlschläge sogar bestärkt. Zu beobachten bei frühen Glasfiber-Karossen, die zu Rissen und Farbveränderungen neigten. So ließ sich Lotus-Gründer Colin Chapman durch Defizite am Fiberglas-Monocoque seines Racers Elan nicht beirren, konnte er doch von diesem Innovationsträger ab 1958 rund 1.000 Einheiten an Fans verkaufen, denen Rennsiege wichtiger waren als eine robuste Konstruktion. Und beim späteren Lotus Europa verklebte er die Kunststoff-Karosserie einfach mit dem Zentralträger-Chassis. Auch der Franzose Jean Rédélé verwendete Kunststoff für seine Alpine-Sportwagen, um Gewicht zu sparen. Im Jahre 1958 überraschte er mit dem Alpine A108 Coupé: ein agiler „Grand Tourisme“ mit neuartigen, hinter Glas liegenden Scheinwerfern, der die Franzosen ähnlich euphorisierte wie es Porsche in Deutschland gelang.
Auch die anfänglich unüberwindbar scheinenden Dichtleisten-Probleme des vor 60 Jahren vorgestellten Wankelmotors hielten sowohl die Kleinwagenmarke NSU als auch ihren japanischen Lizenznehmer Mazda nicht davon ab, den Kreiskolbenmotor standfest zu machen. Es war ein Duell, an dessen Ende beide die Nase vorn hatten, wie der NSU Wankel Spider als erstes Einscheiben- und der Mazda Cosmo Sport als erster Zweischeiben-Rotationsmotormodell bewiesen. Nur ein Kalkül ging nicht auf: Trotz zwei Millionen verkaufter Kreiskolbentriebwerke war der Hubkolbenmotor nicht zu ersetzen.
Nicht nur technisch gelten die späten 1950er Jahre als eine der kreativsten Epochen der Automobilgeschichte – selten wurde auch in Mode und Design derart viel experimentiert und neu gedacht. So war es möglich, dass damals drei Designtrends gleichzeitig en vogue waren: Aus Amerika schwappte eine Welle chromglitzernder Straßenkreuzer mit Panoramascheiben-Design nach Europa. Ein Hype, der auch die europäischen Hersteller erfasste und einen Zenit erreichte, als nicht weniger als 55 Marken von Alfa bis Volvo den Traum von der schöneren Aussicht auf Landschaft und Weltraum wahrmachen wollten. Dazu passten die raketenähnlichen Designelemente, die an den gigantischen Heckflossen des US-Modelljahres 1959 zu finden waren. Insignien des Space Age, die in der Alten Welt adaptiert wurden. Sogar italienische Starcouturiers wie Pininfarina begeisterten sich für die Finnen und integrierten diese in einen dritten Trend, die elegante Trapezform. Was Designer Pininfarina zuerst für Lancia entwarf, kleidete bald über 100 Modelle, vom kleinen Trabant über den populären Peugeot 404 bis hin zur Mercedes S-Klasse. Das Rad wurde 1958 nicht neu erfunden, aber fast alles andere.