SP-X/Köln. Vielleicht war sie ihrer Zeit einfach zu weit voraus. Zehn Jahre später hätte kaum jemand kritische Worte über das nur scheinbar gigantische Format und Gewicht der Mercedes-Benz S-Klasse (W 140) verloren, legten doch bis zur Jahrtausendwende alle Luxusliner und vor allem SUV die Toleranzschwelle für sozial verträgliche Maße und Gewichte deutlich höher. So aber bezeichneten Medien die 1991 vorgestellte Typenfamilie 300 SE bis 600 SEL zwar als „bestes Auto aller Zeiten“, gleichzeitig gab es jedoch süffisante Anmerkungen der Art, dass der bis 5,21 Meter lange, bis zu 2,6 Tonnen schwere und mit 1,50 Meter rekordverdächtig hoch bauende „Riesen-Dampfer“ von Mercedes endgültig an Rolls-Royce rücke und sogar den Zwölfzylinder-BMW 7er „wie einen Magersüchtigen ausschauen lässt“. Tatsächlich übertrumpfte die Mercedes S-Klasse die versammelte Oberklasse – vor allem aber durch fetten technologischen Fortschritt und detailverliebte Finesse wie den elektrisch verstellbaren Innenspiegel und einen automatischen Griff für den Kofferraumdeckel. Als erster Mercedes-Serien-Pkw fuhr der 600 SE mit einem V12-Motor vor, der monumentale 300 kW/408 PS freisetzte und so den V12-Vorreiter BMW 750i mit „nur“ 300 PS klar deklassierte. Auf der anderen Seite setzten die Schwaben sparsame Dieselmotoren in der Luxusklasse als adäquaten Antrieb durch. Auch beim Fahrstabilitätsprogramm ESP, Navigationssystem, Sprach-Bedienung und Notrufsystem oder künftigem autonomem Fahren leistete die S-Klasse (W 140) eindrucksvolle Pionierarbeit. Mercedes wusste eben, was die Welt wollte: Ein Spitzenmodell für Selbstfahrer und eine ruhige Lounge für die Reichen und Mächtigen auf den Fond-Fauteuils. Deshalb führte die S-Klasse ihr Segment ungeachtet aller Kritik an.
Der neue „Big-Benz“ erschien passgenau zum Ende der bürgerlich-kleinen Bonner Republik und zum Umzugsbeschluss des deutschen Bundestags nach Berlin, wo die S-Klasse ungeachtet vereinzelter automobiler Konkurrenz aus Ingolstadt und München wieder die Fahrzeugkolonnen der politischen Prominenz prägen sollte. Das mediale Geschrei, ob die Baureihe W 140 auf den Autozug nach Sylt passe oder ob die von Bruno Sacco in klassisch-klaren aber kolossal wirkenden Konturen gezeichnete Karosse wirklich nur mit Hilfe ausfahrbarer Peilstäbe am Heck in Parklücken zu manövrieren sei, interessierte Helmut Kohl in seiner neuen Kanzler-S-Klasse ebenso wenig wie die anderen treuen S-Klasse-Kunden, also vor allem Vorstände, Freiberufler oder Prominente aus Film- und Showbusiness. Allein die Mercedes-Ingenieure muss die Kritik heftig getroffen haben, wie sich beim Facelift 1994 zeigte, das darauf zielte, das Flaggschiff etwas graziler wirken zu lassen. Und die nachfolgende, schon 1998 präsentierte S-Klasse W 220 fiel gleich eine halbe Nummer kleiner aus, optisch so unspektakulär, dass sie heute von Laien schon mal mit einer E-Klasse verwechselt wird.
Für die Konkurrenz aus Audi V8, BMW 7er, Lexus LS und Jaguar XJ waren es keine guten Nachrichten: Die bis dahin größte und nobelste S-Klasse schoss 1991 sofort an die Spitze des Segments. So wurden schon in den ersten neun Monaten nach Markstart über 48.000 Sonderklasse-Limousinen ausgeliefert, während BMW im ganzen Jahr 1991 nur noch 35.000 Einheiten des von der Presse zunächst so hochgelobten 7ers verkaufte. Im Folgejahr fertigte Mercedes bereits 72.000 Einheiten seines Flaggschiffs, BMW lediglich 31.000 Exemplare des 7er. In den USA griff der Lexus LS 400 nach der Krone des Verkaufskönigs, aber Daimler konterte mit der S-Klasse, die als erster Mercedes-Benz den neuen Plakettengrill trug, erfolgreich. Die Formensprache und Proportionen des W 140, ursprünglich sollte er übrigens nur als Langversion kommen, empfanden die Lexus-Designer als so vollendet, dass sie diese noch neun Jahre später bei einer neuen Generation ihres „Luxury Sedan“ zitierten. Dies ganz nach dem asiatischen Credo: Nachahmung ist die höchste Form der Anerkennung.
Und in Deutschland? Dort zollte das Publikum dem pompösen, später sogar als 6,21 Meter lange Pullman-Staatslimousine lieferbaren größten Mercedes Applaus in Form einer Flut von Bestellungen. Im ersten vollen Verkaufsjahr registrierte die Neuzulassungsstatistik rund 22.000 S-Klasse-Limousinen gegenüber nur 15.000 Einheiten des 7ers und gerade vierstelligen Werten der anderen Verfolger. Damals hatte der rund 200.000 Mark teure Mercedes (das entsprach 50 Prozent Aufpreis gegenüber dem Münchner V12) kleine, sogenannte Kinderkrankheiten wie vereinzelt auftretende Windgeräusche durch unebene Dichtungen an den neuartigen, doppelverglasten Türen längst abgelegt, stattdessen setzte er Maßstäbe durch das breiteste Motorenprogramm in der Oberklasse. Beim ersten Sechszylinder-Diesel für die Oberklasse, 110 kW/150 PS stark, begann die Leistungsleiter, führte dann über den billigsten Benziner 300 SE 2.8 mit 142 kW/193 PS und den 210 kW/286 PS freisetzenden Einstiegs-V8 im 400 SE bis zum V12 im 600er und endete erst bei Kleinserien vom Haustuner AMG, etwa mit 346 kW/470 PS kräftigem 7,1-Liter-V12. Zur Einordnung: Nicht einmal der Ferrari Testarossa bot so viele cavalli unter der Haube. Noch exklusiver war nur das aufsehenerregende S-Klasse-Landaulet, das 1997 an Papst Johannes Paul II übergeben wurde.
Diesseits von Papamobil und gepanzertem Pullman-Mercedes gelten traditionell die Coupés der S-Klasse als das Vornehmste, was die deutsche Autoindustrie in die Schauräume stellte. Seit 1989 kämpfte allerdings der BMW 850i mit V12-Kraft um die Lufthoheit in der Königsklasse der Coupés. Für Mercedes Ansporn, dieses Feld exklusiver Dynamiker mit besonders opulent ausstaffierten W-140-Zweitürern anzuführen. Tatsächlich errangen die Typen 600 SEC und 500 SEC sowie ab 1994 auch das S 420 Coupé – in jenem Jahr spendierte Daimler seinem Modellprogramm die bis heute übliche Nomenklatur – eine Alleinstellung. Weniger sportlich als BMW 8er oder Jaguar XJ-S fanden die S-Klasse Coupés ihre Konkurrenten eher bei Bentley oder Aston Martin, die allerdings noch hochpreisiger waren. So erreichten die Verkaufszahlen für die riesig wirkenden Coupés mit dem großen Stern im Grill ein erstaunliches Niveau: Mehr als 26.000 S-Klasse Coupés setzte Mercedes bis Ende 1998 ab.
Auch die Tür des heute global größten Luxusmarktes öffnete der W 140: Im November 1997 wurde das 400.000ste Exemplar, ein S 600 L, nach China ausgeliefert. Zwar endete die Fertigung der Baureihe offiziell im September 1998, aber Technologien wie das in 500-SEL-Prototypen erfolgreich erprobte autonome Fahren wiesen weit ins neue Jahrtausend. Und dann gab es noch das 2002 realisierte Revival der ultraluxuriösen Riesenlimousinen von Maybach: Deren Entwicklung wurde durch den S 600 L Pullman forciert. Heute zählt der W 140 zu den besonders gesuchten neuen H-Kennzeichen-Kandidaten, hat sich doch die Bestandszahl des robusten Langstreckenläufers hierzulande drastisch reduziert. Der Grund? Sehr viele Gebrauchtwagen fanden Fans in Russland und Südosteuropa.